Unvollendet und doch präsentabel

Wann ist ein Werk fertig?

Sehr viele Menschen neigen zum Perfektionismus. Sie werkeln solange an ihren Dateien, Bildern, Büchern, Liedern, Melodien, Skulpturen, Einzelstücken herum, bis… ja, bis Ihnen keine Zeit mehr bleibt, diese zu zeigen oder zu veröffentlichen. Das ist schade. Es wartet vieles unvollendet und doch präsentabel darauf, betrachtet, gelesen oder gehört zu werden. Stellen wir uns vor, Redakteure von tagesaktuellem Geschehen würden sich so schwer tun, ihre Reportagen und Berichte zu veröffentlichen? Es ist gut, auch mal einen Fehler zu riskieren oder eine Lücke im Detail zu haben. Wer oder was ist schon perfekt? Wann ist ein Werk fertig?

Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, so heißt das altbekannte Sprichwort. So sollten wir uns eher einen Ruck geben, Ergebnisse kreativen Schaffens öffentlich zu zeigen, als im stillen Kämmerlein, im Atelier, in der Werkstatt oder im Büro über ihnen zu brüten. Mit Impulsen von anderen Menschen lassen sich auch vermeintlich unfertige Werke interpretieren, weiter entfalten, präsentieren, verändern, und vieles mehr. So kann der Mut zur Lücke belohnt werden.

Woher kommt dieses Bestreben, etwas möglichst perfekt vollenden zu wollen? Was ist gut daran? Es liegt viel an unserer Erziehung in Schule und Elternhaus. Hier meldet sich vor allem der sicher den meisten von uns bekannte innere Antreiber: „Sei perfekt!“ Das spricht er gebetsmühlenartig zu uns, im Befehlston, und wir gehorchen. Klar hat er seine guten Seiten, denn so erreicht der Mensch in vielen Projekten und Aufgaben neue und höhere Qualitätslevel. Das ist gut bei der Entwicklung neuer Produkte, in Medizin und Technik beispielsweise. In der Kunst und Kultur und in vielen anderen kreativen Bereichen ist dieser Antreiber eher hinderlich. Wenn wir uns hier die Fragen stellen – Wann ist etwas vollendet? Wann ist etwas präsentationsreif? – wäre unsere Antwort höchstwahrscheinlich: Nie!

Das Unvollendete genießen

Scheiß auf perfekt. So lautet der provokante Titel eines neues Buchs von Stefan Dederichs aus dem Gabal-Verlag. Mit Mut zur Lücke glücklich leben. Zwei Überschriften springen mich beim Durchblättern besonders an: „Der Fehler – ein Zeichen der Stärke?“ und „Verhindert Perfektionismus Leistungsstärke?“. Mit diesen Überschriften trifft der Autor einen zeitlos aktuellen Nerv. Auf unserem KunstBlog möchten wir euch ab und zu Beispiele zeigen, die uns alle ermutigen sollten, mit dem Unvollendeten, Unperfekten gut zu leben, es sogar genießen zu können.

In unserem ersten Blogbeitrag befassten wir uns mit der Frage, überhaupt etwas zu wagen, das wir gerne tun würden, von dem wir uns nicht trauten, es zu machen. Nun geht es um die Frage der Vollendung in der Kunst. So greifen wir heute zwei extreme Beispiele aus der Musikwelt heraus, die exemplarisch zeigen, dass wir auch mit kleinsten Notenresten zweier berühmter Komponisten bis heute leben und diese Reste zu schätzen wissen. Sie werden immer noch aufgeführt und im Falle von Beethovens Fragmenten aus seiner „Zehnten“ sogar in unserem Jahrhundert mit neuen Notenfolgen fortgeschrieben.

Mozarts Requiem und Beethovens Unvollendete

Mozart hat sein eigenes Requiem geschrieben und es nicht mehr zuende komponieren können, weil er starb. Sein Requiem blieb unvollendet, und so versuchten sich einige Komponisten mal mehr mal weniger gut am Fortschreiben. Es gibt dazu einige YouTube-Videos, die zeigen, dass Mozarts Requiem auch unvollendet präsentabel und durchaus hörenswert ist. Es bleibt ein viel gespieltes Stück mit eigenen Interpretationen. Klickt dazu die blau eingefärbten Worte „Mozarts Requiem“ an, wenn Ihr mögt. Die Bedeutung des Requiems wird hier in einfacher und liebevoller Weise beschrieben.

Mozarts Requiem – Die Noten, die er noch selbst geschrieben hat.

Wolfgang Amadé Mozart, Detail aus einem Gemälde von Johann Nepomuk della Croce (ca. 1781)

Machen wir gleich mit Beethovens Nr. 10 – Die Unvollendete weiter. 

Ludwig van Beethoven (1770–1827) Gemälde von Joseph Karl Stieler, ca. 1820

Von der Zehnten gibt es tatsächlich nur Fragmente, ein paar Töne, eine kleine Melodiefolge, und doch reizt es bis heute, daran weiterzuschreiben. Ein Projekt anlässlich von Beethovens 250. Geburtstag stammt von der Telekom. Sie förderte den Versuch, aus Beethovens Fragment ein kleines Musikstück zu entwickeln. Mithilfe von künstlicher Intelligenz wurde ein Teil der zehnten Sinfonie fortgeschrieben. Hört selbst, was daraus entstanden ist, und wie es klingt. Erkennt ihr noch Beethovens „Handschrift“, oder ist es etwas vollkommen Neues?

Was meint ihr? Wie sinnhaft ist es, herausfinden zu wollen, wie diese Unvollendete wohl weitergeschrieben worden wäre? Jedes Musikstück ist ein Produkt seiner Zeit. Das Tolle ist, dass es auch durch moderne Fassungen oder Interpretationen seine Zeit überdauern kann. Die Ergebnisse brauchen nicht allen zu gefallen. Künstlerische Variation und persönlicher Stil sind Geschmacksache.

Das waren zwei Beispiele, wie auch ganz und gar unfertige Notenfolgen, obwohl unvollendet, so doch präsentabel unsere Zeit überdauern. 

„Nicht perfekt zu sein, ist wunderbar“

„Nicht perfekt zu sein, ist wunderbar. Immer wenn wir uns erlauben, nicht perfekt sein zu müssen, sind wir schon um Klassen besser.“ Das schrieb schon 2001 Ute Lauterbach, *1955, eine deutsche Autorin und Gründerin des Instituts für psychoenergetische Integration in ihrem Buch „Spielverderber des Glücks“ aus dem Kösel-Verlag. Nehmen wir uns dieses Zitat zu Herzen und zeigen wir Herzensprojekte und Arbeiten. Durch Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen können aus dem Unvollendeten großartige neue Dinge entstehen.

Wenn ihr schon etwas komponiert habt, ein Musikstück oder einen Song geschrieben, führt es auf, spielt es, singt es, zeigt es! Ihr habt gesehen, dass ein Thema, eine Melodie, ein Standard, eine Phrase auch über Jahrhunderte immer wieder anders gedacht, arrangiert, interpretiert werden kann. So lebt eure Anfangsidee weiter.

Wartet nicht. Wagt Euch ins Licht! Legt einfach los und zeigt euch und eure Ideen!

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Wir dürfen wieder ins Museum

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Wie kann Kunst in schweren Zeiten helfen?