Rilke – zur Einstimmung auf den Herbst

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Inzwischen ist es auch auf unserem Kunstblog offensichtlich, dass ich Gedichte liebe. Das ist bei einer Sprachwissenschaftlerin, die sich nahezu täglich mit Sprechkunst, werblicher Sprache und textlicher Vermarktung beschäftigt, nicht weiter verwunderlich. Was ich heute mitgebracht habe, sind zwei bildreiche Gedichte von Rilke zur Einstimmung auf den Herbst. Rainer Maria Rilke gehört zu meinen Dichterfavoriten des 20. Jahrhunderts. Wer sich Rilke noch nicht näherte, dem sei schon an dieser Stelle das Rilke-Projekt von Schönherz und Fleer ans Herz gelegt. Das  Paar vertonte mit prominenten Schauspieler*innen und Sänger*innen in fünf CD-Folgen bekannte Rilke-Gedichte. Heute wähle ich das Gedicht Herbsttag, das auf dem Rilke-Projekt Überfließende Himmel von Gottfried John eingesprochen wird. Einfach großartig!

Die bildreiche Wortwahl macht den „Herbsttag“ zu einem einprägsamen Lese- und Hörerlebnis.

Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben
Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris, Das Buch der Bilder

Beim Lesen sind uns die Bilder vertraut

Das Gedicht enthält drei Strophen mit jeweils um einen Vers wachsender Zeile. Das Reimschema wechselt. Dieser Text berührt mich regelmäßig aufs Neue. Auch wenn der Sommer 2021 bei uns im Norden eher keiner und nicht sehr groß war, so können wir Nordlichter spätestens ab der zweiten Zeile mitgehen, denn bei uns weht es ordentlich. Und überall, wo Weinbeeren und Äpfel im Sonnenlicht wachsen und reifen, verstehen wir den ausgesprochenen Wunsch des Dichters.

Alleinstehende und Singles könnten etwas melancholisch oder schwermütig werden, angesichts der letzten Strophe. Ausgiebig lesen und lange Briefe schreiben… das ist heutzutage fast schon ein zeitlicher Luxus. Alle Schlaflosen und Rastlosen werden sich allerdings hier erkennen. Die metaphorische Bedeutung der treibenden Blätter braucht keine weitere Erklärung.

Ein rastloser Geist

Selbst wenn wir den Hintergrund nicht kennen würden, aus dem heraus dieses Gedicht entstand, so lässt es auf eine momentane Einsamkeit des Schreibenden schließen – und auf eine Ruhelosigkeit. Und tatsächlich lebte Rilke im Herbst des Jahres 1902 ohne seine Frau Clara Rilke-Westhoff in Paris. Er war zuvor allein dorthin gezogen, und sie folgte ihm dann etwas später nach. Rilke blieb ein rastloser Geist, den es selten an einem Ort länger hielt. Er starb im Dezember 1926 im Alter von 51 Jahren an einer seltenen Form der Leukämie im Sanatorium Valmont sur Territet bei Montreux. Clara überlebte ihn um 26 Jahre. Sie war nicht seine einzige Liebe.

Natur ist glücklich

Rilkes Lyrik steht für seine Beobachtungen der Natur und des Menschen mit seinen Gefühlen und Seelenzuständen. Zu seinen sogenannten Dinggedichten gehört das Folgende mit dem sprechenden Titel Blaue Hortensie. Achtet auf die wunderbare Wortwahl! Wo gab es jemals das Verb „verneuen“? Eigenwillig, und doch können wir Leser*innen uns etwas darunter vorstellen. Jedem Malenden dürfte beim Lesen oder Hören sofort die Lust kommen, den Pinsel zu schwingen und die Blüten im Bild festzuhalten. Natur macht glücklich und „Natur ist glücklich“. Diese letzten drei Wörter, der Titel eines seiner unzähligen Gedichte, kommen mir dabei in den Sinn. Sie sind ebenfalls auf Überfließende Himmel zu hören, gelesen von Jessica Schwarz. Doch wenden wir uns nun der dichterischen Vorlage zu, die Michaele zum Foto für diesen Beitrag inspirierte.

Blaue Hortensie

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

Lektürezeit und zur Ruhe kommen

Nun ist es also bei uns wieder Herbst. Zeit für Tee, Kerzen, Lektüre und Musik. Ich kann euch nur ermutigen, die wieder früher dunkel werdenden Abende zu nutzen, um Gedichte, Essays, Geschichten und die dazugehörigen, oft faszinierenden Biographien zu lesen, zu hören oder selbst etwas zu schreiben. Manchmal sind auch zahllose Briefe von Autoren posthum veröffentlicht, die uns die Schreibenden und ihre Lebensumstände näherbringen.

Da fällt mein Blick gerade auf ein Buch, das mir liebe belesene Nachbarn in meiner alten Heimat zum Abschied schenkten. Es ist der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé, seiner Geliebten in den Jahren 1897 bis 1900. Sie galt als seine künstlerische Muse, und es verband sie eine tiefe Freundschaft und platonische Liebe, bis zu seinem Tod. Sie schien dem Rastlosen Halt und Rat zu geben. Einer seiner letzten Briefe, die er vom Krankenbett aus diktierte, galt ihr, doch sollen diese Zeilen hier nicht der traurige Schlusspunkt sein. Da scheint mir eine frühere zauberhafte Liebeserklärung, die als Zitat dem Buchrücken meines Buchgeschenks entstammt, passender zu sein: „Liebe Lou, wenn Du, – was manchmal geschieht – in meinen Träumen bist, dann ist dieser Traum und sein Nachklang im folgenden Tag wirklicher denn alle tägliche Wirklichkeit, ist Welt und Geschehen…. in Deiner Nähe, die mich ruhig, geduldig und gut macht. Rainer“

Quellen

Rainer Maria Rilke, Gedichte und Prosa, Nikol-Verlag Hamburg, 2010

Rainer Maria Rilke, Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, hg. Ernst Pfeiffer, Insel-Verlag 1989

Schönherz & Fleer, Rilke Projekt, Überfließende Himmel, BMG Classics, 2000, www.rilke-projekt.de

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